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Lütz, Manfred - Irre - Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen
Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen
Originaltitel: -
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Erschienen: 14. September 2009
ISBN-13: 978-3579068794
Seiten: 208
Einband: Gebundene Ausgabe
Serie: -
Autorenportrait:
Dr. med. Dipl. Theol. Manfred Lütz, geboren 1954, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenarzt, Theologe und Bestseller-Autor. Er studierte Humanmedizin, Philosophie und katholische Theologie in Bonn und Rom. Seit 1997 ist er Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln, einem Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. Dr. Lütz ist verheiratet und hat zwei Töchter. In seinen Büchern befasst er sich aus der Sicht eines Psychotherapeuten satirisch und humorvoll mit Gesundheitsthemen wie auch mit religiösen Fragestellungen.
Quelle: Verlagsseite
Inhaltsangabe:
Dieses Buch ist eine scharfzüngige Gesellschaftsanalyse und zugleich eine heitere Einführung in die Seelenkunde. Was ist Depression, Angststörung, Panik, Schizophrenie, Sucht, Demenz und all das, und was kann man dagegen tun?
Der Bestsellerautor Manfred Lütz, einer der bekanntesten Psychiater und zudem Kabarettist, verspricht: Alle Diagnosen, alle Therapien und das noch unterhaltsam: Irre!
Quelle: Verlagsseite
Meine Meinung:
Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile – A: Unser Problem sind die Normalen, B: Warum behandeln, und wenn ja, wie viele? – Über Unsinn und Sinn von Psychiatrie und Psychotherapie und C: Eine heitere Seelenkunde – Alle Diagnosen, alle Therapien. Diese Hauptteile wiederum sind unterteilt in viele einzelne Kapitel mit einer angenehmen Länge, sodass ich als Leser nicht das Gefühl hatte, ein trockenes Sachbuch zu lesen, welches mehr einem endlos langen Vortrag ähnelt. Gibt es tatsächlich ein Kapitel, welches einen nicht so interessiert, so kann es problemlos übersprungen werden, ohne dass man das Gefühl bekommt, keinen neuen Anfang zu finden. Dass dem Autor selbst daran gelegen war, kein trockenes Sachbuch zu schreiben, beweist der heitere Schreibstil, der das sehr ernst zunehmende Thema etwas auflockert, welches leider oft immer noch falsch eingeschätzt und hinter vorgehaltener Hand diskutiert wird. Dass dieses Buch einen so großen Erfolg bewiesen hat, lag nicht zuletzt an dem sehr markanten sowie witzigen Titel und der Tatsache, dass ausgerechnet Eckart von Hirschhausen das Vorwort verfasst hat.
Manfred Lütz sieht in einer psychischen Störung eine besondere Fähigkeit. Menschen, die unter so einer Störung leiden, machen oft den ganz normalen Wahnsinn unserer Gesellschaft einfach nicht mit, wohingegen „Normale“ erst gar nichts neu beleuchten müssen. Aufgrund ihres dicken Fells haben sie nie die Chance, an wirklich herausfordernde Grenzen zu gelangen. In seinen Augen ist das „Normalsein“ eher ein tragisches Schicksal, was oft in einer Suche nach Spannung im Leben gipfelt und nicht selten ihr Ende in Kriegen, Betrügereien und Morden endet. Das wahre Problem in unserer Gesellschaft sind also die „Normalen“!
Und genau das beleuchtet Lütz im ersten Teil des Buches genauer. Als erstes Beispiel greift er Hitler auf. Ein Mensch, der einen Weltkrieg auslöst und Völkermord betreibt, der kann doch nicht „Normal“ sein oder? Aber wäre er krank gewesen, dann hätte er ja nur anständig psychiatrisch behandelt werden müssen und da ganze Probleme wäre gelöst gewesen …
Unsinn, sagt der Autor, denn Hitler war schrecklich normal – so normal, dass er genau wusste, welche Knöpfe er bei anderen Menschen drücken musste, um sie zu manipulieren, sie für seine Zwecke zu missbrauchen. Lütz geht soweit zu behaupten: „Hitler war nicht krank, sondern normal. Und gerade das ist das eigentlich Erschütternde an diesem Menschen. Kriege werden ohnehin nie von psychisch Kranken geführt, dazu bedarf es einer allzu ausdauernden Zielstrebigkeit. Wäre Hitler psychisch krank gewesen, hätte er seine Verbrechen nicht begehen können.“
Meine Meinung dazu ist: Den meisten „Normalen“ ist in unserer heutigen Ellenbogengesellschaft einfach die Empathie abhandengekommen. Eine Fähigkeit, die wichtig ist, um einen dauerhaften Frieden gewährleisten zu können. Betrachtet man hingegen die psychisch Kranken, dann fällt insbesondere die Fähigkeit ins Auge, sich gut in andere Menschen hineinversetzen zu können. Es stellt sich mir die Frage, ob ein „Normaler“ sich schon einmal Gedanken darüber gemacht hat, wie sich ein psychisch Kranker in der heutigen Welt fühlen muss, umgeben von lauter „Normalen“, die sich anmaßen zu behaupten, ihre Lebens- und Denkensweise wäre die Richtige und mitleidig auf die schauen, die sich mit der heutigen Welt nicht mehr identifizieren können und krank werden, weil die Welt nicht mehr die ihre ist. Und wie viele von ihnen finden keine Kraft mehr den Kampf gegen Windmühlen aufzunehmen und entscheiden sich zu gehen? Und die Normalen reagieren so, wie man es nicht anders von ihnen erwartet – sie schütteln die Köpfe und beschimpfen solche Leute als Feiglinge. Unverständnis auf ganzer Linie – aber auch hier setzt leider kein Umdenken ein. Ich respektiere die Entscheidung eines Menschen, nicht mehr in dieser Welt leben zu wollen. Für mich ist das nicht feige, denn so eine Entscheidung zu treffen erfordert eine ganze Menge Mut. Aber ich schweife ab.
Interessant ist sicherlich auch Manfred Lütz' Vergleich des mittelalterlichen Prangers mit den öffentlichen Diskreditierungen über die elektronischen Medien. Im Gegensatz zum Pranger, an dem man nur ein paar Stunden stand, haben die Diskreditierungen über die heutigen Medien fast schon Ewigkeitscharakter. Apropos Öffentlichkeit: Paris Hilton, Dieter Bohlen, Boris Becker und Co. – sie alle sind wie nicht anders erwartet völlig normal und geben keinen Anlass therapiert werden zu müssen. Wer hätte das gedacht?
Der zweite Teil des Buches widmet sich dem Sinn und Unsinn von Psychiatrie und Psychotherapie. Es wird zunächst die Bedeutung des Begriffes Psychiatrie erklärt, der aus dem Griechischen kommt. Psyche heißt Seele und Iatros heißt Arzt. Für den Autor liefert die Psychiatrie mehr oder weniger nützliche Bildbeschreibungen – aus denen man gewisse Schlüsse für die Therapie leidender Menschen ziehen kann. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich finde, dass Manfred Lütz seine Ansichten zum Thema schon sehr anschaulich darstellt. So darstellt, dass auch ein Laie sie gut verstehen kann. Mit den meisten seiner Ansichten gehe ich konform und finde seine Gedanken nachvollziehbar. Man merkt, dass er sein Fach versteht und sich Gedanken gemacht hat. Die Schreibweise ist zwar heiter, aber bringt trotzdem sehr gut rüber, wie wichtig dieses Thema ist. Er schreibt, es ist nie auszuschließen, dass dünnhäutige Menschen irgendwann in ihrem Leben ihre dünne Haut durch die Mauern eines psychiatrischen Krankenhauses schützen aber ebenso ist er der Meinung, dass die Psychiatrie sich nicht dazu verleiten lassen darf, das Außergewöhnliche, das Exzentrische durch Diagnosen ruhigzustellen, denn wir alle turnen laut seiner Aussage mehr oder weniger kunstvoll am Abgrund des sicheren Todes entlang. Für die, die immer mal wieder in diesen Abgrund starren und dann etwas anders wirken als die meisten, ergreift er jedoch Partei und sagt, dass man sie deswegen noch lange nicht für verrückt erklären darf. Und wenn er schreibt, dass wir heute weniger tolerant sind als die Menschen früherer Zeiten und wir einfach schneller dazu neigen, etwas Außergewöhnliches für krank zu erklären, dann stimme ich ihm da voll und ganz zu. Ich finde, wir haben die Toleranz verlernt und beharren viel zu sehr auf unsere eigenen Standpunkte, von denen wir glauben, dass nur sie die einzig richtigen sein können.
In diesem Teil des Buches räumt der Autor auch mit den Vorurteilen bezüglich Psychopharmaka auf. Nach anfänglicher Skepsis gegenüber dem Einsatz chemischer Waffen, also Medikamenten in Bezug auf unsere Psyche, ist er mittlerweile von der Notwendigkeit überzeugt. Viele (vor allen Dingen ältere Menschen) haben heute noch Vorurteile, was Psychopharmaka angeht. Lütz betont, dass Neuroleptika und Antidepressiva, die es seit über Jahren gibt, niemals abhängig machen. Auch haben die modernen Präparate viel weniger Nebenwirkungen als ihre älteren Vorgänger. Wichtig ist nur, dass die Medikation richtig eingestellt ist. Manfred Lütz sagt ganz klar: „Medikamente, also Psychopharmaka, können bei einigen psychischen Erkrankungen eine wichtige Option sein. Auf ihre Gabe zu verzichten, wäre unterlassene Hilfeleistung.“
Zum Schluss widmet sich der Autor noch allen Diagnosen und Therapien in der heiteren Seelenkunde. Aufgeführt werden dort mehrere Arten der Erkrankung wie Sucht, Schizophrenie oder Depression. Sein Fazit: Menschen mit psychischen Störungen lasen sich nicht uniformieren. Sie erlauben sich verrückte Gedanken und sprengen starre Konventionen und erweisen uns allen im Endeffekt einen großen Dienst, denn sie halten die humane Temperatur einer Gesellschaft über dem Gefrierpunkt, indem sie ihr nicht nur ein menschliches Gesicht, sondern ganz viele unterschiedliche menschliche Gesichter geben. Sie sind nicht bloß gewöhnlich, sondern außergewöhnlich und nicht bloß ordinär, sondern extraordinär.
Meiner Meinung nach ist dieses Buch eines der gelungensten auf diesem Gebiet. Leicht verständlich und weit entfernt von einem staubtrockenen Sachbuch, was ich wahrscheinlich nach ein paar Seiten schon aus der Hand gelegt hätte. Manfred Lütz‘ Ansichten machen ihn mir durchaus sympathisch. Er mag vielleicht etwas zu oft betonen, dass eigentlich die „Normalen“ die Kranken sind – aber hierzu müsste er sich dann ja eigentlich auch selber zählen. Aber die ständigen Wiederholungen diesbezüglich sind in meinen Augen vollkommen gerechtfertigt, weil in den meisten Köpfen die Meinung bezüglich psychisch Gestörter immer noch so festgefahren und voller Vorurteile ist, dass es sich auf jeden Fall richtig anfühlt, mal eine Lanze für sie zu brechen. Aus diesem Grund vergebe ich gerne fünf Sterne.
Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig.
Ernst Reinhold Hauschka
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